Abstract
Der Vortrag befasst sich mit den konträren Kunstbegriffen, die in Russland vor allem in den 2000er Jahren in verschiedenen Gerichtsprozessen gegen Kunst, Künstler und Kuratoren seitens der orthodoxen Gläubigen und seitens der zeitgenössischen Kunstszene verhandelt wurden. Im Fokus stehen die Prozesse gegen die Organisatoren der Ausstellungen Achtung, Religion! (2003-2005) und Verbotene Kunst 2006 (2007-2010), die wegen Schürens von religiösem und nationalem Hass angeklagt waren. In den Anklage- und Verteidigungsstrategien kollidieren ein säkular-modernistischer Kunstbegriff der Verteidigung und ein akademisch geprägter, traditionalistisch-religiöser Kunstbegriff der Anklage. Ebenso stehen sich zwei verschiedene Bildbegriffe gegenüber, der Bildbegriff der Ikone und ein modernistischer Bildbegriff, in dem die Kunstwerke schon lange nicht mehr über sich hinaus in eine göttliche Sphäre verweisen. Hieraus resultiert eine Diskussion über die Macht der Bilder. Desweiteren wird vor Gericht anhand von Kriterien wie Traditionsbruch vs. Fortführung der Traditionen, Zerstörung des orthodoxen Weltbildes vs. Lieferung von Denkanstößen, Material und Handwerk vs. Konzept, Nationalismus vs. Internationalismus/Modernismus u.a. ausgehandelt, welche Art von Kunst für die russische Gesellschaft verbindlich gelten soll.
Hieraus ergeben sich zwei wesentliche Diskussionsfelder: 1. eine Debatte über die Zulässigkeit der Verwendung religiöser Symbole in einem außerreligiösen Kontext; 2. eine Debatte sowohl über den materiellen als auch über den ideellen Wert der zeitgenössischen Kunst in der gegenwärtigen russischen Gesellschaft. Diese beiden Diskussionsfelder sind einerseits besonders im heutigen Russland stark umkämpft und werden mit juristischen Konsequenzen ausgetragen. Andererseits bestimmen sie auch die internationale Debatte über Kunst im Kontext von Gerichtsprozessen, sodass sich an die russlandspezifischen Betrachtungen ein kurzer internationaler Ausblick anschließt.