Abstract
Die Handschrift Paris, BnF lat. 9389, das sogenannte „Echternacher Evangeliar“, enthält mit Griffeln eingeritzte Textglossen, die in der Forschung zu den ältesten Originalzeugnissen der althochdeutschen Sprache gezählt und mancherorts gar als die frühesten althochdeutschen Belege bezeichnet werden. Bei näherer Betrachtung der Forschungslage und des fraglichen Materials wird jedoch ersichtlich, dass diese Reputation wissenschaftlich nicht ausreichend untermauert ist. Die Erforschung der Glossen, die sich als wechselvoll präsentiert, war nie zu einem Abschluss gekommen, der es erlaubt hätte, den Sprachcharakter der Belege zu bestimmen. Indem die letzte wissenschaftliche Beschäftigung mit den Glossen des Echternacher Evangeliars zudem schon gut 15 Jahre zurückliegt, war eine Neubewertung umso dringlicher geboten. Der vorliegende Beitrag berichtet über die neueste Untersuchung der Handschrift und ihrer Griffeleintragungen, gibt eine Neuedition der Glossen sowie eine paläographische und sprachliche Analyse des volkssprachigen Materials. Das Resultat zeigt eine Überlieferung, die nur mit Vorsicht in die früheste Zeit zu stellen ist, deren sprachliche Zuweisung problematisch erscheint und für die der althochdeutsche Sprachcharakter bis auf einen diskutablen Beleg nicht nachzuweisen ist.