Abstract
Ziel dieser Monographie ist die Bestimmung der literarischen Gattung von Spr 28–29. Einige Forscher (U. Skladny, B. V. Malchow, S.-P. Liew und D. Finkbeiner) nehmen an, daß es sich um ein Handbuch für die Erziehung von Königssöhnen handle; andere (J. L. Crenshaw, F. W. Golka und H. V. Kieweler) halten dagegen, daß der Text eine Lehre für die Erziehung jedes Menschen darstelle. Der Autor zeigt, daß dies nur scheinbar gegensätzliche Thesen sind, insofern Spr 28–29 sich an Verantwortungsträger vor allem als Menschen richtete. Aus der auffallenden Ähnlichkeit mit den ägyptischen Lehren Merikaras und Amenemhats, welche dieselbe literarische Spannung bezüglich der Adressaten (des Königs und jedes Bürgers) aufweisen, ergibt sich zunächst, daß Spr 28–29 seinen "Sitz im Leben" am Königshof hat. Trotz der Besonderheit des königlichen Berufs gegenüber den Untertanen unterscheidet sich der König aber nicht grundsätzlich von diesen: Der Herrscher ist ein "Mann" (hebr. isch, hieroglyphisch s). Die Lehre in Spr 28–29 wird unter Hiskija (Spr 25,1) nach dem Muster der oben genannten politischen Weisheitslehren entstanden sein. Im Gefolge einer "Demotisierung" des Königsethos konnte die Weisung aber als Lehre für jeden Menschen verstanden werden.