Abstract
Alexander Gottlieb Baumgarten gilt als Diskursivitätsbegründer der modernen Ästhetik, als Begründer der Kulturwissenschaft en, und er legt den Grundstein für die moderne Literaturtheorie – genauer und besser gesagt: für eine literarische Epistemologie, wie sie in dieser Form bis heute ihresgleichen sucht. Der Komplexitätsbegriff
taucht dabei das erste Mal in seiner Geschichte als philosophischer Schlüsselbegriff auf: Komplex in ihrer Darstellung sind nämlich sowohl die literarischen Texte, die Baumgarten beobachtet, um auf dieser Grundlage die Gesetze der sinnlichen Erkenntnis zu formulieren; diese Komplexität lässt sich als Fülle oder Mannigfaltigkeit der Darstellung wie der Erkenntnis selbst begreifen und hat einen durchaus quantitativen Aspekt. ›Einfach‹ und ›komplex‹ bilden in dieser Hinsicht ein Kontinuum: Je mehr Elemente die sinnliche Darstellung bzw. Erkenntnis verarbeitet, desto komplexer ist dieser Prozess, je weniger, desto einfacher. Komplex ist aber gleichzeitig auch das System, das Baumgarten der sinnlichen Erkenntnis unterlegt; diese Komplexität zeichnet sich durch einen hohen Grad an Diff erenzierung aus und ist qualitativ zu verstehen. ›Einfach‹ und ›komplex‹ bilden in dieser Hinsicht Gegensätze: Je unordentlicher, desto einfacher ist eine solche Ordnung, je ordentlicher und begründeter, desto komplexer. Im Spannungsfeld dieser jeweils doppelt perspektivierten Komplexität bzw. Einfachheit entsteht um 1750 die moderne Literaturtheorie, weil und indem Alexander Gottlieb Baumgarten die Formatvorlage des rhetorischen Systems dadurch sprengt, dass er ihr eine Erkenntnistheorie aufpfropft (I.). Im Zentrum der literarischen Epistemologie steht der quantitativ-komplexe Begriff : conceptus complexus (II.). Dieser wird – innerhalb der qualitativ-komplexen Systematik – zu einer Fiktionstheorie erweitert, die Erzeugungsfunktion (a), Gestaltungsfunktion (b) und Wahrheitsfunktion (c) komplexer Welten umfasst (III.) und im Horizont des Modells unscharfer Erkenntnis reflektiert (IV.).