Abstract
In der Dunkelheit lauert die "fremde Frau" (Prov. 7,9.12). Ihr Pfad senkt sich zum Tod (Prov. 2,18). Nicht zufällig stand die Gestalt in der bisherigen Forschung im Dunkel, am Rande des Interesses, während ihre gepriesene Gegenspielerin "Frau Weisheit" allseits Beachtung fand. Die vorliegende Studie erfasst das facettenreiche Porträt der "fremden Frau" in Prov. 1-9 unter besonderer Berücksichtigung der Metaphorik und der literarischen Bezugnahmen auf traditionsgeschichtlich vorausliegende Texte. Als Thema weisheitlicher Mahnreden aus nachexilischer Zeit zeigt die literarische Figur der "Fremden" das Frauenbild ihres Trägerkreises auf. Die in der Untersuchung erarbeiteten sozialgeschichtlichen Konstellationen der persischen Provinz Jehud machen Benennung und Funktion der "fremden Frau" in Proverbien 1-9 verständlich: "Fremd" im Sinne der Autorinnen und Autoren ist jede Frau ausserhalb der eigenen Familie, die die gesellschaftlich anerkannten Normen für die Beziehungen der Geschlechter bricht.
Die Lehrreden warnen vor sexuellen Beziehungen mit Frauen ausserhalb der Ehe und kündigen demjenigen, der die Warnung nicht beachtet, dramatische Folgen wie den Verlust des Besitzes und die soziale Ächtung an. Die Trägergruppe der Texte ist in gebildeten Laienkreisen der städtischen Oberschicht der Provinz Jehud zu suchen, die ihre Lehrreden als aktualisierende Auslegung von Torageboten versteht. Sie setzt sich für den Erhalt bestehender Familienbindungen innerhalb der Vaterhäuser ein, die Grundlage für Wohlstand und hohe soziale Stellung sind.