Abstract
Die Erzählung von den zwei Brüdern, überliefert im Papyrus d’Orbiney, ist kein harmloses Märchen. Endend mit einer Drohformel, die den zeitgenössischen Leser vor falscher Auslegung warnt, beschreib sie auf spezifische Weise die Herabkunft des ramessidischen Königtums aus der Göttersphäre. Offenbar erschien es Sethos II. als Kronprinzen in einer krisenhaften Zeit am Ende der 19. Dynastie vor der Krönung notwendig, die mythische Abstammung der Ramessiden von der Dynastiegottheit zu explizieren. Der in einem zeitgleichen Zauberpapyrus, schliesslich Jahrhunderte später noch im Papyrus Jumilhac mit Seth identifizierte Gott Bata agiert in der Rolle der Dynastiegottheit Seth-Baal, von der das ramessidische Königtum herabkommt.
Die Bedeutung des Papyrus erklärt das Auftreten zahlreicher ägyptisch-religiöser Motive im Text. Als zeitbedingte Neuerung werden Mythenteile um den Jahrhunderte früher von Einwanderern aus Palästina importierten Wettergott Baal transformiert und eingebunden, dem alten Familiengott der Ramessiden, bei denen es sich um sozial aufgestiegene Nachfahren dieser Einwanderer handeln muss. Mit den 24 Rubren, die den Text gut sichtbar strukturieren, wir die Handlung insgesamt, mit ihr auch fremdartige Züge de Seth-Baal, schon äusserlich klar erkennbar in das traditionelle Schema des Sonnen-Osiriskreislaufes integriert.
Als konstruierter Mythos, dessen historischer Kontext fassbar ist, ist der Papyrus d’Orbiney auch für die Literaturforschung von Interesse. Die Erzählung führt nicht nur zu den Wurzeln einiger bekannter Märchenmotive. Sie gewährt völlig neue Einblicke in die Entstehung eines mythologischen Textes, schliesslich in den Formungsprozess früher und länderübergreifend verwobener Göttermythen und von Textteilen des Alten Testaments.