Abstract
Im Jahr 1902 hielt der Assyriologe Friedrich Delitzsch vor der Deutschen Orient-Gesellschaft und Kaiser Wilhelm II. einen Vortrag, der unter dem Titel „Babel und Bibel“ in populärer Form den Beitrag der Assyriologie zum Verständnis des Alten Testaments behandelte. Der dadurch entfesselte Babel-Bibel-Streit erregte in Deutschland breite Volksmassen und beschäftigte die Gebildeten „von Kalkutta bis an die letzte Farm Kaliforniens und von Norwegen bis nach Kapstadt“.
Das Bild Delitzschs in der heutigen alttestamentlichen Wissenschaft ist wohl assoziativ mit dem Babel-Bibel-Streit verbunden, inhaltlich aber stark durch Delitzschs gänzliche Verwerfung des Alten Testaments in seinem antisemitischen Spätwerk „Die Große Täuschung“ von 1920 geprägt. Dies führt immer wieder zu Fehlbeurteilungen und Missverständnissen in Bezug auf den Babel-Bibel-Streit. Die vorliegende Untersuchung zeigt, dass Delitzsch in seinem „Babel und Bibel“-Vorträgen zunächst eine durchaus positive Haltung zum Alten Testament hatte. Sie sucht mittels des vom Autor entdeckten Privatnachlasses Delitzschs und anderen unveröffentlichten Materials Spuren theologischen Denkens des Assyriologen Delitzsch vor dem Babel-Bibel-Streit auf, die es möglich machen, die Vorträge auch aus biographischen Voraussetzungen heraus als „Ringen nach einer Vernunft wie Herz befriedigenden Weltanschauung“ zu verstehen. Die überlieferungs- und textkritische Analyse der verschiedenen Editionen der Vorträge, deren Einordnung in das wissenschaftliche, geistige und gesellschaftspolitische Umfeld und die Sichtung der einflussreichsten Positionen im Babel-Bibel-Streit ermöglichen einen neuen Zugang zu der Frage, wie es zu dem erbitterten kirchlichen Widerstand gegen Delitzsch kommen konnte und unterwelchen Einflüssen Delitzsch vom theologisch konservativen Dillmann-Schüler zum Verfasser einer antisemitischen Schmähschrift gegen das Alte Testament werden konnte. Die entscheidende Weichenstellung hierzu kann als theologische Fehlentscheidung im Babel-Bibel-Streit selbst namhaft gemacht werden.
Eine ausführliche Dokumentation macht Material unter anderem aus dem nicht öffentlichen Nachlass Friedrich Delitzschs erstmals zugänglich.