Abstract
Der Band plädiert für kulturwissenschaftliche Demenzforschung. In 30 Beiträgen werden alltägliche Dimensionen von Demenz mit der Absicht erkundet, Lebenslagen von Betroffenen, ihren Angehörigen und Umfeldern zu verbessern. In Auseinandersetzung mit medialen Darstellungen und öffentlichen Debatten, die Demenz meistens mit Verlust der Persönlichkeit gleichsetzen, wird hier gezeigt: Menschen mit Demenz sind selbstverantwortlich handelnde Persönlichkeiten, und sie haben eine Stimme, die gehört werden sollte: Was berichten und erzählen sie über ihre Erfahrungen und Gefühle? Wie deuten, gestalten und organisieren sie ihren Lebensalltag? Aber auch: Wie reagiert das familiäre und weitere Umfeld? Welche Verständigungsformen und Narrative sind dort anzutreffen? Welche Netzwerke der Selbsthilfe und Sorge bilden sich infolge einer Demenz-Diagnose?
Kulturwissenschaftliche Demenzforschung ist an einer Kultur der Ermöglichung und Ermutigung für ein Leben mit Demenz interessiert. Diese Kultur eröffnet sich vor allem im tagtäglichen Umfeld: in Familien und Nachbarschaften, in Kommunen und Kirchen, in Vereinen und Selbsthilfegruppen – in verlässlichen Beziehungen und Umfeldern des Respekts. Dazu gehört aber auch ein verantwortlicher Umgang mit dem Thema in den Medien, nicht zuletzt in der gesundheitspolitischen Debatte. In Anbetracht der Tatsache, dass Medizin und Hirnforschung bisher weder herausgefunden haben, was Demenzen verursacht, noch was sie heilen könnte (und dies auch auf absehbare Zeit nicht tun werden), fragt kulturwissenschaftliche Demenzforschung: Wie möchten wir leben, sollte uns eine Demenz betreffen? Und sie antwortet: in einer Kultur der Sorge. Gemeint ist damit nicht nur fachgerechte Pflege, sondern gemeint sind vor allem Möglichkeiten aktiven Handelns der Betroffenen, Möglichkeiten der Teilhabe und Anerkennung. Es geht um die Lebensqualität von Menschen mit Demenz, zum Beispiel in sorgenden Gemeinschaften, caring communities.
Der Band vereint Beiträge von international renommierten Demenzforscherinnen und Demenzforschern aus unterschiedlichen Disziplinen: Gerontologie, Ethnologie, Literaturwissenschaft, Theologie, Soziologie, Medizingeschichte, Pflegewissenschaft, Medizin, Ethik, Rechtswissenschaft. Wobei sich alle Beiträgerinnen und Beiträger darauf eingelassen haben, aus der Warte ihrer Disziplin zugleich einen kulturwissenschaftlichen Fokus zu entwickeln.