Abstract
Was bedeutet es, sich als Dokumentarfilmer*in in gesellschaftliche Konflikte einzumischen? Worauf gilt es zu achten? Welche ästhetischen und rhetorischen Strategien lassen sich einsetzen, um bei den Zuschauer*innen ein Nachdenken über die Macht dominanter Positionen und das Vermögen kritischer Differenzierungen auszulösen? Und wie findet eine Aktivierung des Publikums statt? Diese Fragen bilden den Ausgangspunkt der Studie über Krieg und Dokumentarfilm.
Die Fokussierung auf das ehemalige Jugoslawien – insbesondere die drei in die Kriege verwickelten Länder Serbien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina – dient zur Schärfung der Forschungsfrage. Denn mit dem kriegerischen Zerfall und der Bildung neuer Nationalstaaten entstand in der Region ein reges politisches Filmschaffen, das sich gegen die dominanten Rhetoriken der Politik zur Wehr setzte. Anhand des spezifischen Filmkorpus lassen sich die Bedingungen der Filmproduktion und -rezeption hinsichtlich komplexer politischer Zusammenhänge und Restriktionen untersuchen. Zudem wird ein wichtiges filmisches Werk in den Blick gerückt, das bis anhin kaum die angemessene Aufmerksamkeit erfährt. Kritisch-politische Dokumentarfilme, so die zentrale These des Forschungsprojekts, können zu einem gesellschaftlichen Wandel beitragen.
Nach einer Verortung der historischen Zusammenhänge und der Rolle der Medien vor und während des Zerfalls Jugoslawiens wird der politisch-aktivierende Modus des Dokumentarfilms analytisch hergeleitet und anschließend an zahlreichen Film- und Kontextanalysen erörtert. Die Autorin legt dar, dass die Dokumentarfilme aus dem ehemaligen Jugoslawien sehr unterschiedliche formalästhetische Strategien verwenden, um die gesellschaftlichen und politischen Widersprüche der existierenden Verhältnisse in ihrer Vielschichtigkeit aufzudecken. Dabei bieten ihre Untersuchungen reichhaltige Erkenntnisse darüber, wie politisch-aktivierende Dokumentarfilme eine zukünftige Realität evozieren, die erst als ‚sich Formende‘ gedacht werden kann. Die Filme wecken Vorstellungen einer zukünftigen Gesellschaft und besserer Lebensverhältnisse. Gegenwartskritik wird ausgehend von gesellschaftlichen Werten und Idealen mit Zukunftsorientierung verschränkt. Dies initiiert die Imaginationskraft der Zuschauer*innen, unterstützt die Diskurse oppositioneller Bewegungen und vermag bestenfalls politisches Handeln in Gang zu setzen. Um ein solchermaßen utopisches Potential zu benennen, führt die Autorin den Begriff der Prospektivität ein.