Abstract
Mitten in den Napoleonischen Feldzügen, von 1795 bis 1797, plant Goethe zusammen mit Johann Heinrich Meyer eine großangelegte historisch-geographische Kulturanalyse Italiens. Immer wieder aufgeschoben bleibt das Projekt ein ungeschriebenes Buch. Seine Italien-Erfahrung stellt Goethe erst in der zwischen 1813 und 1817 entstandenen rein autobiographischen Italienischen Reise dar. Das »gescheiterte« Unternehmen versucht er aus der Erinnerung zu verbannen. Die Forschung ist Goethe darin gefolgt und hat das Bild vom Weimarer »Olympier« als Herrscher über die klassischen Formen übernommen. Claudia Keller zeigt hingegen, dass das Italien-Projekt gerade im Aufschub seine Produktivität in epistemologischer wie in ästhetischer Hinsicht entfaltet. Die Zeit von 1795 bis 1805 erscheint so nicht mehr als Phase eines rigorosen normativen Klassizismus. Vielmehr schlagen sich die Problemstellungen rund um die »Kultur« und ihre Analyse noch in Goethes literarischem Spätwerk nieder. In der Ablösung vom Anspruch, die Kulturgeschichte Italiens in ein abgerundetes Ganzes zu vereinen, kommt etwas Zentrales, in die Moderne Reichendes in den Blick, das sich in Goethes Zeichnung der durchgewachsenen Rose verdichtet: die morphologische Dynamisierung von Kultur und ihre unabschließbare Lebendigkeit.