Abstract
Der Aufsatz thematisiert raum-mediale Wissenspraktiken der Naturgeschichte um 1900. In diesen Jahrzehnten hatte das naturkundliche Wissensformat der sogenannten Lokalfloren und Lokalfaunen (kurz: Floren und Faunen) Hochkonjunktur. Eine Flora beziehungsweise Fauna ist eine nach taxonomischen Systemen geordnete Bestandeserfassung aller in einem klar umrissenen Gebiet vorkommenden Pflanzen- respektive Tierarten, ergänzt um Angaben zu Standorten und Häufigkeiten.
Neben der Objektsammlung war das Erstellen kantonaler Floren- und Faunenwerke eine der wichtigsten Forschungsaktivitäten der nichtakademischen Naturforscher der Schweiz um 1900. In diesen Jahren florierte die ausseruniversitäre Naturforschung, sie bildete lokale Wissensmilieus aus, die in kantonalen Naturforschervereinen, örtlichen Naturmuseen sowie Schulen ihre institutionellen Stützen fanden.
Da die Bestandeserfassung eines vollständigen Kantonsgebietes mit den Kapazitäten eines einzelnen, ausschliesslich in der Freizeit tätigen Forschers unmöglich zu bewältigen war, waren einschlägige Datenerhebungen zwangsläufig kollektive Angelegenheiten. Ausgehend von einem nicht-substantialistischen Medienbegriff sollen diese kollaborativen Erhebungsnetzwerke als Medien betrachtet und zwei Aspekte beleuchtet werden.
Erstens soll die Struktur und Funktionsweise dieser Erhebungsnetzwerke umrissen werden. Diese waren in unterschiedlichem Grad formalisiert, jedoch praktisch nie institutionalisiert – es handelte sich um informelle und situative Kooperationsprojekte. Es wird gezeigt, wie diese Netze hergestellt und stabil gehalten wurden, welche Daten- und Objektströme ihr normales Funktionieren in Gang setzte und welche Praktiken die Datenqualität sicherstellen sollten.
Zweitens soll skizziert werden, welche Wirkungen diese Inventarisierungsprojekte auf die involvierten Akteure sowie den untersuchten Raum entfalteten. Mit Blick auf den letzten Aspekt wird gezeigt, dass die sozio-mediale Raumpraktik der biologischen Bestandeserfassung auch verschiedene ausserwissenschaftliche Effekte zeitigte. So bildeten die Wissenspraktiken der Lokalkatalogisierung die epistemische Grundlage für die Entstehung des Naturschutzgedankens um 1900 und bereiteten den Boden für die sich abzeichnende Neuinterpretation des Lokalen als „Heimat“.