Abstract
Das Recht auf Leben gemäss Art. 2 EMRK verpflichtet die Vertragsstaaten materiell, das Leben der ihrer Gerichtsbarkeit unterworfenen Personen zu schützen. Diese positive Schutzpflicht besteht im Falle der Suizidalität eines Inhaftierten nur, wenn die Behörden wussten oder hätten wissen müssen, dass eine reale und unmittelbare Suizidgefahr bestand. Um dies zu beurteilen, sind verschiedene Faktoren zu berücksichtigen, wie namentlich (i) das Vorliegen einer Vorgeschichte bezüglich psychischer Gesundheitsprobleme, (ii) die Schwere der psychischen Erkrankung, (iii) frühere Selbstmord- oder Selbstverletzungsversuche, (iv) Suizidgedanken oder -drohungen sowie (v) Zeichen physischer oder psychischer Verzweiflung. Sodann müssen die Behörden alles unternommen haben, was unter den Umständen des Falles vernünftigerweise von ihnen erwartet werden konnte, um die Realisierung des Suizidrisikos zu verhindern.
In prozeduraler Hinsicht erfordert Art. 2 EMRK, dass eine wirksame amtliche Untersuchung durchgeführt wird, wenn eine Person unter verdächtigen Umständen zu Tode kommt. Eine solche Untersuchung ist auch dann geboten, wenn der Tod zwar nicht aus einer Gewaltanwendung durch Staatsbeamte resultierte, die Beamten aber möglicherweise trotzdem zur Verantwortung gezogen werden können. Wirksam ist eine Untersuchung, wenn sie angemessen ist. Um den Grad der Wirksamkeit einer Untersuchung zu beurteilen, sind verschiedene Kriterien gemeinsam herbeizuziehen: (i) Angemessenheit der getätigten Untersuchungshandlungen, (ii) Schnelligkeit der Untersuchung, (iii) Beteiligung der Angehörigen des Verstorbenen an der Untersuchung und (iv) Unabhängigkeit der Untersuchung.