Abstract
Im Zuge eines Close Readings der Eröffnungssequenz von Federico Fellinis E la nave va (I 1983; dt.: Fellinis Schiff der Träume) arbeitet Jörg Schweinitz eine hybride Zeitlichkeit des Films heraus, die er als Ästhetische Eigenzeit bestimmt. Die untersuchte Sequenz lässt diese exemplarisch hervortreten. Die erzählte Zeit (im Sinne der Zeitebene der diegetischen Handlungsabläufe) ist im Jahr 1914 angesiedelt, unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Allerdings wird diese zeitliche Bestimmung in zweierlei Hinsicht irritiert. Einerseits durch metaleptische Strukturen, die sich mit der Figur eines aus dieser Zeit fallenden Berichterstatters verbinden, der als allwissende Erzählerfigur auf paradoxe Weise innerhalb der Diegese auftritt, und andererseits dadurch, dass das Geschehen auf eine Weise visuell inszeniert wird, die innerhalb weniger Minuten eine Abfolge der Bildstile aus der Zeit des frühesten Stummfilms bis hin zum klassischen Kino nutzt und dabei sowohl den Übergang vom monochromen zum farbigen Film als auch den zum Ton artifiziell, teils opernhaft (und keineswegs immer in der historisch korrekten Reihenfolge) inszeniert, also mindestens 30 Jahre ästhetischer Geschichte des Films thematisiert. Auf diese Weise wird nicht nur die Bestimmung von der erzählten Zeit als einigen Tagen im Sommer 1914 irritiert und massiv durch ganz andere Signale der Temporalität unterlaufen, sondern auch eine medialitätsgeschichtlich-reflexive Ebene ins Spiel gebracht. Schweinitz verbindet diese Analyse mit einem theoretischen Diskurs zum Begriff der Ästhetischen Eigenzeit, der dazu dienen soll, blinde Flecken der klassischen Narratologie angesichts solcher Inszenierungsweisen in der Moderne kenntlich zu machen und zu überwinden.