Abstract
Von den Reliquien des Mittelalters über Mumien und Schädel bis hin zum Handel mit medizinischen Präparaten und Organen: Leichen und Leichenteile wurden im Lauf der Geschichte in den unterschiedlichsten Szenarien gesammelt, verkauft, ausgestellt und als begehrte Spekulationsobjekte fieberhaft gejagt. Zugleich war der Umgang mit ihnen jedoch meist ethisch hochsensibel und mit Ängsten, Tabus und Gefühlen wie Abscheu oder Ekel behaftet. Wer, so ließe sich daher fragen, profitierte unter welchen Umständen vom Geschäft mit den Toten – und wer leistete Widerstand? Inwiefern unterschieden sich historische Gesellschaften in der wirtschaftlichen Indienststellung, Verwertung und Vermarktung ihrer Toten? Historische Gesellschaften, so die These des Themenheftes in der Historischen Anthropologie, brachten unterschiedliche ‚Nekroökonomien‘ hervor. In Anlehnung an den Kulturhistoriker Thomas Laqueur und sein Konzept der ‚necro-geographies‘ verstehen wir darunter historisch veränderliche Praktiken der kommerziellen Verwertung von Leichen, alte und neue Institutionen des Leichenhandels sowie die Ausbildung gesellschaftlicher Diskurskonstellationen im Spannungsfeld von Wirtschaft, Moral, Religion und Wissenschaft. Der griffige Titel des Themenheftes „Totes Kapital“ nutzt den semantisch außerordentlich weiten Kapitalbegriff für die Konzeptionalisierung einer – zunächst unerwarteten und wenig erforschten – Form der Wertschöpfung auf der moralisch brisanten Basis menschlicher Überreste. Wir schliessen mit dieser unorthodoxen Begriffsbildung an die allgemeine Ausweitung des „Ökonomien“-begriffs in der Geschichtswissenschaft der letzten Jahre etwa auf Wissensökonomien und Sammlungsökonomien an. Dabei argumentieren wir gegen eine Verengung des Kapitalbegriffs auf offensichtliche monetäre und maschinelle Ressourcen sowie auf Arbeit. Denn eine Erweiterung der Perspektive betrachten wir auch als eine bisher weitgehend verpasste Chance in den aktuellen Kapitalismusdebatten –rund um die Frage nach der historischen Tiefendimension von materiellen Inwertsetzungen einerseits und um die nach den Verbindungen zwischen Kapitalismus und Ungleichheit andererseits. Damit möchten wir auch die Frage aufwerfen, wie sich im Kontext des „toten Kapitals“ ökonomische, soziale und mimetische Kapitalformen zueinander verhielten.