Abstract
Das Aufdecken und Kritisieren von Praktiken der Bevormundung hat Kulturwissenschaftler:innen, die ihre Arbeit als macht- beziehungsweise herrschaftskritisch verstanden, aber auch antiautoritäre politische Bewegungen über lange Zeit hin motiviert und miteinander verbunden. In vielen Institutionen zwischen Bildung, Pflege und Justiz ist die Abkehr von Bevormundung beziehungsweise Paternalismus zum offiziellen, demokratietheoretisch begründeten Ziel avanciert. In den letzten Jahren kommt Bevormundungskritik wiederum auffällig oft von rechter und (rechts)libertärer Seite und hat andere Ziele gefunden. Die Proteste gegen Schutzmassnahmen gegen das Coronavirus oder die Verteidigung klimaschädlicher Konsumpraktiken sind dafür zwei Beispiele unter vielen. In der politischen Öffentlichkeit kursieren derweil Zeitdiagnosen, denen zufolge progressive Kreise durch (moralische) Bevormundung erhebliche Teile der Bevölkerung vor den Kopf stossen und damit auch den Widerstandsgeist, der der Popular- und Populärkultur und dem Alltagsverstand inhärent ist, provozieren, was eine allgemeinere Rechtswende fördere. Um diese Zusammenhänge zu entwirren, fächert der Beitrag verschiedene Aspekte der Bevormundungskritik und ihrer Verwobenheit mit der Populärkultur(forschung), aber auch mit Hegemoniestrategien neoliberaler Intellektueller auf. Er zeigt, dass die genannten Zeitdiagnosen empirisch bislang kaum belegt sind und skizziert eine kulturanalytische Forschungsagenda, die auf dieses Desiderat reagiert – und der politisch-diskursiven Rekonfigurierung des Populären sowohl alltagsethnografisch als auch ideologiekritisch nachgeht.