Abstract
Der zentrale Schritt beim Leseerwerb besteht darin, jedem Sprachlaut den entsprechenden Buchstaben zuzuordnen. Kinder mit einer Lese- und Rechtschreibstörung (LRS) haben oft Mühe, diese Korrespondenzen zu lernen. Der erschwerte Leseerwerb geht mit anhaltenden Beeinträchtigungen bis ins Erwachsenenalter einher.
Wir untersuchten 28 deutschsprachige Kinder mit einem erhöhten Risiko für eine LRS am Ende des zweiten Kindergartenjahres und in der Mitte der ersten Klasse (Karipidis et al., 2018). In einem kurzen computerbasierten Training lernten die Kindergartenkinder die Korrespondenzen zwischen unbekannten Pseudobuchstaben und bekannten Sprachlauten. Von besonderen Interesse war dabei die Zeitspanne (Dauer), die jedes Kind brauchte, um die Korrespondenzen zu lernen. 1–5 Tage nach dem Training führten wir simultane Aufnahmen mittels Elektroenzephalographie und funktioneller Magnetresonanztomographie (EEG–fMRT) durch, um zu untersuchen, wie die trainierten Korrespondenzen im Gehirn audiovisuell verarbeitet wurden, wenn sie korrekt (kongruent) oder falsch (inkongruent) präsentiert wurden. In der Mitte der ersten Klasse wurde die Leseleistung anhand von Ein-Minuten-Leseflüssigkeitstests (SLRT-II) als gut (15 Kinder) oder schwach (13 Kinder) eingestuft.
Die Dauer des Pseudobuchstabentrainings erwies sich mit 68 % Genauigkeit als das beste Verhaltensmass für die Vorhersage der Leseleistung in der ersten Klasse. Die Genauigkeit der Vorhersage erhöhte sich durch den Einbezug der EEG und fMRT Daten der audiovisuellen Prozesse. So erreichte die Vorhersage 79 %, wenn das statistische Modell nebst der Trainingsdauer auch das ereigniskorrelierte Potential (EKP) um 400 ms beinhaltete und 82 % wenn die hämodynamischen Reaktionen im linken Planum temporale berücksichtigt wurden. Verhaltensmasse und neuronale Masse, die direkt die audiovisuelle Verarbeitung von trainierten Pseudobuchstaben und Sprachlauten widerspiegelten, identifizierten zukünftige schwache Leser/-innen genauer als herkömmliche Einschätzungsinstrumente. Zudem wies eine kombinierte EEG-fMRT Analyse darauf hin, dass die Modulation des temporoparietalen Kortex durch das EKP um 400 ms im Vorschulalter signifikant mit der späteren Leseflüssigkeit zusammenhing. Die kombinierte Auswertung der EEG und fMRT Daten ermöglichte eine einzigartige Kopplung zeitlicher und räumlicher neuronaler Informationen, die die ausschlaggebende Rolle des Temporalkortex in der audiovisuellen Integration aufzeigte.
Die Ergebnisse zeigen neue Wege zur Früherkennung von LRS auf und weisen auf Implikationen für die Diagnostik, und Evaluation früher und individuell zugeschnittener Interventionsprogramme für Kinder mit einem familiären Risiko für eine LRS hin.