Abstract
Während die französische Königin im August 1793 auf ihren Prozess wartet, setzt die Literatin Germaine de Staël zu deren Verteidigung an. In einer rund 30 Seiten umfassenden Schrift stellt sie Marie-Antoinette als Opfer der Justiz und der öffentlichen Verleumdung dar. Der schutzlosen Ehefrau und Mutter müsse Mitleid, nicht Verachtung, entgegengebracht werden. Marie-Antoinettes Position als Mutter zweier Kinder wird in der vorliegenden Quelle stark thematisiert. Dies ist kein Zufall, betrachtet man das Familienbild Staëls vor seinem zeitgeschichtlichen Hintergrund. Die Autorin partizipiert am pädagogischen Diskurs des 18. Jahrhunderts, welcher vor allem durch Rousseau massgeblich geprägt wurde. In erzieherischen und medizinischen Schriften der Aufklärung nimmt das Thema «Mutterliebe» eine zunehmend zentrale Stellung ein, während die Mutterrolle eine Aufwertung erfährt. Um für das Schicksal der Königin Empathie bei der Leserschaft zu erwecken, macht Staël also gezielt vom Topos der fürsorglichen Mutter Gebrauch. Dadurch soll das negative Bild der Königin, verursacht durch die zahlreich kursierenden Karikaturen und Pamphlete, relativiert werden. Indem sie Marie-Antoinette als liebende Mutter darstellt, rechnet Staël mit einer grösseren Wirksamkeit ihrer Verteidigungsschrift.