Abstract
Baudelaire, Paris und „das Palimpsest des Erinnerungsvermögens“. Es gibt keine Erfindung, die nicht gleichzeitig Aufarbeitung beinhaltet, und keine Zukunft ohne zumindest einen kurzen Blick zurück. Baudelaires Dichtkunst ist deswegen so innovativ, weil sie mit einer noch nie dagewesenen Dramatik den topos der Stadt, den Großstadtraum, als Tiefe des Erinnerungsvermögens verinnerlicht. Wohl beerbt Baudelaire damit die Tradition des „Tableau de Paris“, die Karlheinz Stierle nachgezeichnet hat; aber diese „Capitale infâme“ macht er zum paradoxen Schauplatz einerseits einer der modernen Zeit angepassten Trauerform (die namentlich das Idyll beklagt), andererseits eines frischen Elans, den man als fertilité, Fruchtbarkeit des Erinnerungsvermögens, bezeichnen könnte. Dieses Paradox soll hier beschrieben werden: Paris als Schaubühne für den Verlust aller Ideale und gleichzeitig als Szene für die Umwandlung dieses Verlusts in dichterisches Gold („or poétique“). Die für das Palimpsest typische Überlagerung eines früheren gelöschten Textes durch einen neu vorliegenden ist besonders gut nachvollziehbar in der Baudelaireschen Koexistenz einer heidnischen und einer modernen Schicht, die unter dem Doppelzeichen der Zerrissenheit der Christenheit und der von Melancholie geprägten Reflexionsfähigkeit steht. Diese Dialektik wollen wir als zweites untersuchen und werden uns dabei vorwiegend auf „Delphine et Hippolyte“ und die Racineschen Reminiszenzen im Wortschatz und in der Prosodie Baudelaires konzentrieren.