Abstract
Die empirische Erforschung des moralischen Entscheidens und Handelns stützt sich zunehmend auf Patienten, die selten auftretende Hirnläsionen in bestimmten Regionen des Frontallappens aufweisen. Dies stellt sowohl die neuroethische Frage zur Bedeutung solcher Erkenntnisse für unser Verständnis von Moral als auch die medizinethische Frage nach dem Umgang mit solchen Patienten im Kontext von Forschung und Klinik. Basierend auf einer Auswertung der Literatur über den Zusammenhang von Hirnläsionen und Sozialverhalten sowie gut 40 Jahren eigene Erfahrung in der neuropsychologischen Abklärung zeigen wir zwei Wahrnehmungslücken: Zum einen propagieren diese Studien einen Neurodeterminismus des menschlichen Moralverhaltens, der aber wissenschaftlich nicht ausreichend untermauert ist. Zum anderen zeigt sich eine Verschiebung des Forschungsinteresses weg von einem klinischen Fokus hin zur neuropsychologischen Grundlagenforschung über das menschliche Moralvermögen. Letzterer Punkt ist insofern bedeutsam, als dass der klinische und alltägliche Umgang mit solchen Patienten schwierig ist und diese Menschen die Grenzen der Anwendung klassischer medizinethischer Prinzipien wie Autonomie und Fürsorge aufzeigen.