Abstract
»Im Atemholen sind zweierlei Gnaden: Die Luft einziehen, sich ihrer entladen.« Was Johann Wolfgang von Goethe im West-östlichen Divan anspricht, nimmt Bezug auf eine im Islam geübte Gebetspraxis, das iterative Rezitieren einer gottgedenkenden Formel, die mit dem arabischen Begriff ذكر dhikr, ›Erinnerung, Gedächtnis, Ruf‹, bezeichnet wird. Inhalt dieser knappen Sequenz ist eine Anrufung, ein Gotteslob und kann einer der neunundneunzig schönsten Namen Gottes sein oder auch der Anfang des islamischen Glaubensbekenntnisses.
Diese Rezitation, die entweder bloss in Gedanken formuliert oder mit Stimme ausgesprochen beständig wiederholt wird, tritt oft in Kombination mit einer an den Wortlaut gebundenen Atemtechnik auf. So folgt beispielsweise der Negation im Ausatmen Lā ilāha ›Es gibt keinen Gott‹ die aufatmende Bezeugung illā ’llāhu ›ausser Gott‹. Die rhythmisierte Repetition lässt den Praktizierenden ganz in die von göttlichem Geben und Nehmen durchdrungene Welt eintreten, lässt ihn, wie in Sufi-Kreisen gesagt wird, entwerden in Gott.