Abstract
Während frühere kriminologische Theorien von kategorialen Unterschieden zwischen kriminellen und nicht-kriminellen Personen ausgingen, wird in der Neutralisationstheorie argumentiert, dass die Grenzen zwischen Normalität und Abweichung subtiler seien. Straffällige unterschieden sich vielmehr darin, Rechtfertigungen für ihre Straftaten zu lernen. Mit experimentellen Designs konnte mittlerweile gezeigt werden, dass die kognitive Verfügbarkeit von Rechtfertigungen auf die Neigung wirkt, schwere Gewaltdelikte zu begehen. Jedoch blieb eine Erforschung von Rechtfertigungen für die erheblich häufiger vorkommenden Alltagsdelikte bislang weitgehend unberücksichtigt. Wir überprüfen mit Hilfe von Kontexteffekten, inwiefern Rechtfertigungen auf die Bereitschaft der Begehung der drei Alltagsdelikte Schwarzfahren, Diebstahl und Körperverletzung wirken. Hierfür wurden in der Leipziger Innenstadt 180 Personen im Alter zwischen 15 und 75 Jahren mit einem standardisierten Fragebogen befragt. Der Zusammenhang zwischen der Zustimmung zu Rechtfertigungen und der Verhaltensneigung sollte gemäß der Theorie in derjenigen Fragebogenversion stärker sein, in der Rechtfertigungen zuerst gefragt wurden. Unsere Befunde lassen jedoch darauf schließen, dass Rechtfertigungen bei Alltagsdelikten einen geringeren Einfluss auf abweichendes Verhalten haben, als dies bei schwerwiegenderen Delikten der Fall ist.