Abstract
Dass Schrift und Orthographie, egal ob paläographisch oder im Web 2.0, handschriftlich oder gedruckt, nicht nur Anlass zu Kultur- und Sprachverfallsdiskussionen sein müssen, sondern auch eine wertvolle Quelle zur Sprachgeschichte darstellen können, ist eines der vielfältigen Themen des wissenschaftlichen Schaffens von Sebastian Kempgen (z.B. Kempgen 2009, 2013). So illustriert er am Beispiel bulgarischer Postkarten aus der ersten Hälfte des 20. Jh. den linguistischen Erkenntnisgewinn aus grammatischen und orthographischen ‘Fehlern’, die „bisher in Grammatiken so nicht berücksichtigte morphologische Varianten“ zeigen (2009, 23). Orthographische Variation und vermeintliche Fehler in schriftlichen Dokumenten dieses Sprachgebiets sind auch Gegenstand des vorliegenden Beitrags. Anhand zweier Quellen aus dem vorstandardisierten Balkanslavischen, dem Sbornik von Pop Punčo (1795) und Đorđe Puljevskis Rečnik dreier Sprachen (1875), soll gezeigt werden, inwiefern Orthographie, die einerseits nicht länger tradierten und andererseits noch nicht präskriptiven Normen unterworfen ist, im Sinn Vacheks (1939) eine Brücke zwischen gesprochener und geschriebener Sprache darstellen und so Hinweise auf die balkanslavische Sprachgeschichte geben kann. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass die weitgehend nicht normierte, und stattdessen an der sprachlichen Wahrnehmung der Schreiber orientierten Orthographie dieser Dokumente es erlaubt, in Abwesenheit zeitgenössischer Informanten den Text selbst – mit aller Vorsicht (so ist keine negative Evidenz möglich) – als native speaker (vgl. dazu Fleischman 2000, 46) zu betrachten