Abstract
Seit der Entdeckung des Papyrus Moskau 120 im Jahr 1891 durch den russischen Ägyptologen Wladimir Golénischeff diskutiert die Forschung, ob es sich bei der Erzählung des Wenamun um einen historischen Tatsachenbericht oder um ein fiktionales Literaturwerk handelt. Die vorliegende Studie legt den Text in einer neuen Bearbeitung vor und analysiert ihn unter einem doppelten Blickwinkel (historisch und literarisch). Dabei wird der Nachweis geführt, daß es sich bei der Geschichte des Wenamun um ein kunstvolles Literaturwerk handelt, das bewußt an der Schnittstelle von historischem Bericht und literarischer Erzählung angesiedelt ist. Die religiöse Botschaft des Textes hat zugleich eine politische Dimension, indem das Wirken des Gottes Amun-Re nicht mehr mit der thebanischen Priesterschaft, sondern mit dem regierenden Pharao verbunden wird. Vor diesem Hintergrund erweist sich die Erzählung des Wenamun als ein Literaturwerk, das im Spannungsfeld von Politik, Geschichte und Religion verortet werden kann. Der Text datiert vermutlich in die Zeit Scheschonqs I. und den Übergang der 21. zur 22. Dynastie.