Abstract
Die vordere Sinaiperikope im zweiten Buch der Bibel erzählt von der Grundlegung der staatlichen Verfassung Israels. Die sprachwissenschaftlich fundierte Analyse der Texte zeigt, dass die Autoren darin nicht die Zeit der erzählten Handlung, sondern ihre eigene Zeit reflektieren. Die mehrfach fortgeschriebene Erzählung erweist sich als programmatisches Werk der Exils- und Nachexilszeit. Die politisch führenden Kreise haben ihre Konzeptionen von der gesellschaftlichen Verfasstheit Israels mit Hilfe der Textfiktion einer Theophanie am Gottesberg zum Ausdruck gebracht. Die Textakteure stehen am Gottesberg in unterschiedlicher Distanz zu Gott und nehmen Gott in unterschiedlicher Weise wahr. Diese Unterschiede sind Ausdruck von divergierenden politischen Konzeptionen. Die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zwischen den Heimkehrern aus dem Exil und den Nichtexilierten sowie die zwischen Laien und Priestern haben sich in den Texten niedergeschlagen. Welche Funktion sollen gesellschaftliche Eliten haben? Sind sie überhaupt wünschenswert? Wie sollen Rechtsordnung, Kult und politische Gremien organisiert sein? Die vorliegende Studie zeigt, welche Antworten von den beteiligten gesellschaftlichen Gruppen im Laufe einer rund 250jährigen Fortschreibungsgeschichte gegeben wurden und wie aus einem Verfassungsentwurf die Tora Israels wurde.